Mittwoch, 8. Februar 2017

Essay: Gangster im Gemüseladen


Über die Banalität des Bösen und Bertolt Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ 

Howard Hawks drehte einen Film, einen Klassiker des amerikanischen Gangsterkinos. „Narbengesicht“. Finster und schön. Überbordend, maßlos. In diesem Werk markiert ein „X“ den Tatort. Überall Leichen, daraus resultierend: ein großzügig verteiltes Gewebe zweier übereinandergeschlagener Linien, Signaturen entstofflichter und doch materieller Gewalt. Als ich diesen Film das erste Mal sah, musste ich an Hannah Arendts Aufarbeitung von der „Banalität des Bösen“ denken. Banal, das „X“. Böse, die auf den Punkt hin konzentrierte tote Zeit unmissverständlicher Vergänglichkeit in den Straßenzügen einer Stadt, deren Engel zu Stein erstarrt sind.

Ein anderer Film. Henri-Georges Clouzot drehte einen Film, einen Klassiker des französischen Überlebenskinos. „Lohn der Angst“. Packend und mythisch. Schweißverschmiert, archaisch. In diesem Werk bestreiten vier zusammengewürfelte Menschen, vier heimatlos Gestrandete, ein Abenteuer inmitten der Naturgewalten gegen die Naturgewalten. Sie transportieren Sprengstoff, um einer Ölkatastrophe Einhalt zu gebieten, und bei der kleinstmöglichen Erschütterung ist alles aus. Als ich diesen Film das erste Mal sah, musste ich an Hannah Arendts Aufarbeitung von der „Banalität des Bösen“ denken. Banal, die tiefen Schlaglöcher. Böse, die abgekapselten Bruchstücke einer Existenz, die zu Staub zerfallen ist.

Beiden filmhistorischen Werken ist ein figurenimmanentes Psychogramm des Wechsels und Wandels inhärent. Wo sich der amerikanische Haudegen an seiner rohen Destruktivität ergötzt, leidet der französische Haudegen an seiner existenzialistischen Noblesse. Aber sowohl Hawks als auch Clouzot entmythologisierten den „großen politischen Verbrecher“ (Brecht) zu einem „beschränkt[en], oft ehrlich[en], aber selten weitblickend[en]“ (aus Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“) Volksdilettanten. 

Geschichte zu dekonstruieren, ihr das Makroskopische zu rauben, sie zu verkleinern auf Reste des Zusammenhangs zwischen den Ideologien, ihr faktisch das Engelhafte zu nehmen, wie es Walter Benjamin der Geschichte attestierte, die die Verwüstung heilen möchte, aber vom Fortschritt hinweggeweht wird, ist nicht nur ein Wesensmerkmal politischer Satiren oder personalisierter Gaunerstücke, sondern zugleich Essenz des Parabelhaften als solches.  

Bertolts Brechts auf den ersten Blick scheinoffensichtliche Gangstergroteske „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ bedient sich jenen vergleichbaren Strategien, die sich der Verhüllung bemächtigen, um spitzformulierte Kritik zu üben. Kritik an nationalistischer Zugehörigkeitsmentalität, am Wegschauen, Wegducken, Wegdiskutieren, Kritik am Gedeihen des Bösen, das, mit viel gutem Willen, „aufhaltsam“ gewesen wäre. 

Aufhaltsam gerade deshalb, weil Brecht, statt, dass er die Geschichte des Bösen entmythologisiert, vielmehr das Böse der Geschichte entwurzelt. 

Dazu verlagerte Brecht den politischen Aufstieg Adolf Hitlers in die Chicagoer Gangsterszene, deren Ikonografie nicht zufällig an die popkulturellen, umspannenden Unterweltepen erinnert, die im Geiste Al Capones gesellschaftlichen Zerfall an der Bandbreite seiner gärenden Korruption bemaß. Brecht verfremdete Namen und Handlungen, obgleich sein Arturo Ui die Identität des österreichischen Radikaldemagogen beibehielt: Ui stilisiert sich als vertrauens- und vernunftgemahnender Freund des Volkes, der mit „allerstrengste[m] moralische[m] Maßstab“ den „Frieden“ zu sichern versucht. Dieser Frieden allerdings, er gründet auf der Okkupation fremder Herrschaftsgebiete, auf dem gemeinsamen Nenner „unerschütterlichen Glauben[s]“. 

Während ich „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ las, musste ich beständig an zwei von Brecht zyklisch verwendete Wörter denken, an „Karfiol“ und „Grünzeug“ oder, als Erweiterung dessen, „Grünhandel“ und damit an die „Banalität des Bösen“. 

Banale Wörter, gewiss. Sie zeugen von unverzagten, friedlicheren und grundanständigen Zeiten gegenseitig fairer Gewinnübereinkunft.

Maskenhaft ist überhaupt die Sprache der Ganoven insgesamt: hymnisch, versgebunden, changierend zwischen lapidaren und tragikomisch ernsten Absurditäten, eine Zeichenabfolge, die hinter schrulligen, theatralisch säuselnden Gestalten die Attitüde der Scharlatanerie entlarvt. 

Wie gemeingefährlich oder, um in Brechts Euphemismus zu bleiben, „anheimelnd faul“ können Gemüsehändler sein?

Nicht, das steht außer Zweifel, sonderlich gefährlich, denn Brechts Kriminelle wirken ihrer dämonischen Anziehungskraft enthüllt. Sie sind Ikonen, Überbleibsel der „großen Sache“, deren Lächerlichkeit von ihrem Mythos überdeckt wurde. Und doch schlagen sie unvermindert zu, folgen ihrem Anführer, töten, wenn es sein muss. Denn Chicago, dieser menschenfeindliche Moloch, hat gesetzliche Autoritäten hervorgebracht, die völlig austauschbar sind. „Ohne ein ‚Volk‘ oder eine Gruppe gibt es keine Macht“, wie Hannah Arendt schrieb. Indem sich Uis Unterstützer gemeinsam in den Schein wirtschaftlicher Kollektivmacht begeben, weil der Einzelne ohne Unterstützung kaum das auszulösen vermag, wie ein Einzelner mit Unterstützung, werden aus Objekten passiver Mitwisserschaft Subjekte aktiver Mittäterschaft.  

Wie konnte es aber dazu kommen? Warum war Arturo Uis Aufstieg derart erfolgreich, obwohl er lediglich aus dem „Grünhandel“ einen persönlichen Nutzen ziehen wollte?

Die „Banalität des Bösen“ konnte nur gedeihen in einem Jahrhundert tiefsitzender moralischer Unordnung, das in seiner späteren nationalsozialistischen Ausformung laut Benjamin einen „Ausdruck“ als Ersatzbefriedigung einer Masse präsentiere, der freilich nicht ihr eigener sei.   

Das Volk wird von Ui sukzessive verführt, es steht langsamen Schrittes gar hinter ihm. Die Verführung durch die Vernunft, wie sie Ui für seine Zwecke instrumentalisiert, passt in eine Philosophie eines starren wissenschaftlichen Rationalismus des 20. Jahrhunderts, die den Formalisierungsprozess der Vernunft als Herrschaftsinstrument und damit zur höchstmöglichen (Selbst-)Vernichtung bis nach Auschwitz verwirklicht, dem Kulminationspunkt ideologisch-industrieller Vernichtung, der keine Erzählung mehr gerecht wurde. Dieser Negation der Aufklärung entspricht Arturo Ui vollumfänglich – er vertraut auf ein System, auf das Adornos berühmter Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ zutrifft. 

Nicht nur Uis, auch Hitlers Aufschwung zu höheren Sprossen der politischen Leiter tangiert die moralphilosophische Erkenntnis, dass es für den Einzelnen nicht möglich sei, ethisch verantwortungsvoll zu handeln, solange der gesellschaftliche Rahmen in sich den Maßstab normativ „richtigen“ Lebens konterkariere. 

Brecht hat mittels Verfremdungstechniken Hitler demaskiert, indem er ihn mit Arturo Ui parallelisierte, mit einem derben Draufgänger, putzigen Sprücheklopfer und groben Taktiker, der banaler als banal, im Kontext des Gemüsehandels, die Folgerichtigkeit des Bösen repräsentiert, allerdings nichts weiter als einen Nutznießer eines „koordinierten Bündels von Beziehungen“ (Michel Foucault) am richtigen Ort zur richtigen Zeit darstellt. 

Selten war Brecht dabei subversiver wie zukunftsgerichteter.