Sonntag, 18. Juni 2017

Essay: Liebesgrüße aus dem Totenreich

Ophelia (John Everett Millais, 1852)

Über Ophelias Tod aus Hamlet und was es heißt, darüber zu schreiben

Wir sind am Siedepunkt der Tragödie angekommen, werter Leser. Unterhalten wir uns. Unterhalten wir uns, wie man das Unglück orchestriert.

Die Grundlage jeder Erzählung ist das Ich. Indem der Schriftsteller das Imaginäre erschafft, zum Beispiel eine Figur, setzt er sich automatisch mit dem Ich auseinander. Er durchlebt, er durchdringt es. Sein Ich ist im gleichen Atemzug das abgespaltete, abstrahierte Ich der Figur, erst seine inneren Befindlichkeiten bilden den Antrieb für das Handeln jener, die zum Leben erweckt werden, um eine Geschichte auszufüllen. Wenn jede Geschichte aber im Ich beginnt und über das Ich handelt, sei diese nachfolgende, die ich nun erzählen werde, eine über die Widersinnigkeit des Ich in Anbetracht der größten Katastrophe.

Lassen Sie uns eine Oase des Endlichen besuchen, lassen Sie uns ein ländliches Idyll ebenso, wie ein verlorenes Paradies bestaunen. Beschaulichkeit und Sensibilität durchbluten es inmitten einer Landschaft aus schmollenden Herbstfarben, die von Grund auf Flüchtiges, den geringsten Trieb der Zerstörung, bereits in sich tragen.

Eine junge Frau, oh, eine junge Frau schreitet über den weichen Waldboden. Ophelia, Hamlets Geliebte. Ich glaube, so heißt sie: Ophelia. Ihr Name harmoniert mit naturlebendiger Schönheit, beides musiziert einen Strom an frohgemutem Überschwang und jugendlichem Eifer.

Wie konnte diese Ophelia je solches Unglück erleiden, dass Sie und ich, der Leser, der Erzähler, es erneut ertragen müssen? Durfte sie überhaupt? Wie unschuldig oder schuldig war sie gar, wenn sich ihr Grad an Selbsttäuschung daran bemaß, ob sie Hamlets wahnsinnige Liebe oder liebestollen Wahnsinn erwiderte?

Die beiden waren vertraut, intim miteinander. Bis er ging, sie blieb. Und die Planetenumlaufbahnen durcheinandergerieten, kollidierten zu betäubendem, transzendentem Sternenstaub.

Ihnen dies expositorisch zu veranschaulichen, hingebungsvoller Leser, ist notwendig, Ophelias Lebensende als Glied in einer langen Kette an Vorboten zu begreifen, die auf weitaus Größeres, Umfassenderes hindeuten, als Bruch mit der Unschuld in einem Vakuum der Schuld.

Meine Macht, Ophelias Unheil nach meinen Gunsten zu verbiegen, ist hierbei beschränkt, werter Leser, ich soll nicht springen, hüpfen, hintergehen, muss die Geschichte an der Wahrheit packen, darf sie unter keinen Umständen zerbersten, muss an der Aufrichtigkeit meiner selbst glauben. Ich muss mich ihren Gespenstern, gleißenden Verlockungen, aber auch dunklen Verhüllungen stellen.

Geschichten, denken Sie immer daran, sind verwinkelte Straßenkarten, die leicht in eine Einbahnstraße nicht mehr buchstabenfassbarer Gefühle führen können.

Aber ich muss Ihnen Ophelias letzten Lebensaugenblick so oder so berichten, beichten vielmehr, an dieser Sackgasse des Wortes, das unmöglich seiner Bedeutung gerecht wird. Denn um eine Geschichte zu verstehen, müssen wir zunächst die Frage verstehen, die uns diese Geschichte in aller abstrakten Deutlichkeit stellt:

Wie konnte ein Engel ein Arrangement mit dem Teufel eingehen?

Dort, am Wildwasser geschah es, an einem Ast brachen Zweige, brach Ophelia. Selig und versunken schlägt des Wassers Sog eine Signatur in einen Pflanzentraum aus zärtlichen Zeichen: Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Knabenkraut.

Ungebändigte Schätze. Nimmersattes Empfinden. Vorsintflutliche Raserei.

Die Tiefe hatte ihre Ophelia.

Wie konnte ein Mädchen dort sterben, enden?

Leser, es ist schmerzhaft. Aber ich erzähle Ihnen diese Geschichte nicht, um eine der seltsameren Ursachenforschungen zu betreiben.

Alle großen Kunstwerke, erst recht die größten, sind ein Stückchen erhabener, weil sie sich unabgeschlossen ihrem Publikum präsentieren und ihr Mysterium beibehalten.

Aufhängen wollte Ophelia ihr Krautgewinde. Mehr vermag ich Ihnen nicht mitzuteilen. Nichtsahnend oder doch ahnend, die schummrig hinter ihrem wallenden Kleid sich betagt vorwärtsräkelnden Schritte der Fatalität, das Wasser ein Meer aus Regentropfenwimpernschlägen, die hinabsinken.
Nur diese mussten der Geschichte ein derart finsterschönes Ende setzen.

Leser, ich weiß. Um das Unabwendbare abzuwenden, muss man es verzögern. In jeder Geschichte schlägt der Seismograph der triumphalen wie der gleichfalls düsteren Attraktionen aus, und wenn er am höchsten ausschlägt, dann lügt der Erzähler, dann muss er lügen. Er schiebt eine Zwischenpassage ein, verlagert sich auf ein anderes Gefühlsgewusel, nimmt einen Umweg, ist feige genug, seiner eigenen Schöpfung zu misstrauen.

Nun, Leser, die Umwege haben wir hinter uns, längst hinter uns. Zeit, sich auf die Spitze der Nadel zuzubewegen. Kommen Sie. Nur Mut.

Ophelia, tatsächlich, stürzt, will stürzen, Ophelia vergeht, will vergehen. Sang ein Lied, eine Strophe, eine Note. Die allerletzte.  

Geboren werden, sterben. Schreiben, einkehren. Oder: hinausflutschen, hineingezogen werden. Überall Dichotomien und Paradoxien. Die ewige determinierte Wiederkehr.

Wie das einstmals luftleichte Kleid, das auf der Wasseroberfläche treibt, als wenn es schweren Gewichts zusammengefallen ist.

Wie profan aber dürfen düstere Geschichten ihren Ausgang nehmen, sobald sich der Seismograph erneut beruhigt? Mit einer klugen Weisheit, einer amüsanten Pointe, beschwichtigendem Optimismus?

Dann diese Weisheit vielleicht: die Tragik der menschlichen Existenz liegt in ihrer Fügung, dass ein jeder Geist stets in empfindlichster Materie verwurzelt sein muss.  

Dann diese Pointe vielleicht: ertrunken, einfach ertrunken.

Und optimistisch blickt der Schriftsteller auf sein Werk: Ophelias Gesicht treibt stoisch wie ein Stück eines abgestorbenen Blattes einer nicht näher kategorisierbaren Zeit entgegen, aber sind es nicht gerade diese Gesichter, die des Schriftstellers schöpferische Landschaft verewigen oder vielmehr das Feuer auf einem weißen Blatt Papier beschleunigen, durch das seine Erfindungsgabe lodert?  

Verlassen wir mit diesen Gedanken die Oase, das Idyll, das Paradies.

Wir werden uns an Ophelia erinnern, an eine Tote von Milliarden Erdenbewohnern, die wohlumwickelt im Sein der Seifenblasen schweben.

Ophelia hingegen ist aus ihrer Seifenblase geplumpst, schlug auf den Grund auf, Opfer einer Erschütterung, die sich Zerbrechlichkeit nennt, während wir uns fragen: warum?

Durch Ophelias Tod haben wir gelernt, wie man träumerisch zergeht, aber auch erbarmungslos zerplatzt.

Alles, was ich Ihnen, werter Leser, berichten musste, habe ich berichtet, auch wenn ich davor, Sie müssen mir verzeihen, stets zurückgeschreckt habe. Aber glauben Sie nicht an die Wahrheit irgendwo draußen, glauben Sie an die Interpretation, an meine Interpretation hier drinnen, und seien Sie sicher, dass Interpretationen des Wirklichen wirklicher als die Wirklichkeit selbst sein können.

Bis bald, Leser.

Und gehen Sie in den Wald, singen Sie ein Lied.

Denn morgen bricht das Wildwasser am Ufer.

Und keiner weiß, was es bringen wird.

Montag, 6. März 2017

Essay: Gegen die Sicherheitsabstände tradierter Moral


Was mir Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ noch heute mitzuteilen weiß

Die Frage nach dem Eigenwert eines Kunstwerks erscheint wichtiger als jener Gegenwert, den der Künstler seiner Arbeit oktroyiert; außerhalb eines Textes sinnliches, subjektives Inspizieren mutet zielgerichteter an als innerhalb eines Textes akademisches, objektives Verifizieren. Was der Künstler für sich erreichen „wollte“, ist nichts im Vergleich zu dem, was er uns „sagt“, da es durch „uns“ erst den Wert erhält, der durch „ihn“ angestoßen wird. Die Herausforderung, auf „uns“ zu horchen, muss höher eingeschätzt werden als die Herausforderung, auf „jemanden“ zu hören, zum Beispiel Sicherheitsabstände einzuhalten, seien es historische Deutungsratgeber oder dem Zeitgeist angelehnte Ideen- und Gedächtnisbarrikaden.

Stellen wir uns ein Kunstwerk als paradiesischen, vor nassschwülen Temperaturen sommerlich strahlenden Urwald vor, dessen gesamte Gedankenkraft, die der Künstler dem Urwald einpflanzt, damit er weiterhin gedeihen kann, unerlässlich dem Resultat eines begierigen Schöpferdrangs entspricht. Ob allerdings jeder einzelne Baumstamm jemals erfassbar sein kann, jede Strauchschicht, jedes Insekt? Nein, und genau dort, auf dieser leeren Bodenfläche, die nicht mehr rekonstruierbar ist, sprießen die originellsten, zugleich perspektivisch richtungsweisendsten Assoziationen eines Publikums, das den Boden gemeinschaftlich weitaus nutzbringender zu bepflanzen vermag als ein Einzelner im Schlepptau mit seiner individuellen Saat.

Was meine ich also, wenn ich mir die Frage stelle, was mir Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ noch heute mitzuteilen weiß? Es bedeutet, dass es sich um ein Werk handelt, bei dem der gesamte Urwald angesichts seiner Dichte an Gedanken, seiner Staffelung an Bewusstseinsveräußerlichungen, seiner, zusammengefasst, artenvielfältigen Bepflanzung nicht erschlossen ist. Und dass dieses Werk fortdauert, aber nicht im Schöpfer allein, sondern vorrangig in uns selber.

Brecht sagt mir, dass a) Freuds erste im 20. Jahrhundert formulierte „Kränkung der Menschheit“ ein paar Jahrhunderte früher weitaus höhere Wellen geschlagen haben dürfte. Denn um die sogenannte „kosmologische Kränkung“ des österreichischen Psychoanalytikers kreist Brechts Werk „Leben des Galilei“ im gesamtgesellschaftlichen Bezugsrahmen. Wenn Galileo Galilei sein revolutionär astronomisches Wissenschaftsverständnis auf der Forschung Kopernikus‘ eklektisch modifiziert, dann erhalten wir annäherungsweise eine Ahnung davon, welche Auswirkungen damit einhergingen, veraltete und religiös verbrämte Grundsätze zu hinterfragen und im Gegenzug die bestehenden gegen erneuerte ersetzen zu wollen. Die „kosmologische Kränkung“ nach Kopernikus beinhaltet laut Freud die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, wohingegen sie selbst um die Sonne kreise. In Brechts von ihm so bezeichnetem „epischem Stück“ führt Galilei folglich erbitterte, nichtsdestotrotz vielschichtige Debatten gegen den Adel, den Klerus und einige Gelehrte; er repräsentiert den paradoxen Fortschrittsgedanken des Nichtwissens und argumentiert gegen den totalitären Stillstand des absoluten Wissens. Dieser „Umbruch“ aber, den Galilei anstrebt, ist kein spiritueller, sondern ein gesellschaftspolitischer Umbruch, wonach tradierte Prinzipien, ganz gleich, welcher Art, einer Überprüfung bedürfen, damit ein „System“, ganz gleich, wofür dieser Begriff auch stehen mag, sich pluralistischer dem Menschen per se öffnet. Brechts Sprachrohr Galileo Galilei erweist sich somit als Schablone eines bedingungslosen Humanisten, aber auch als Schablone eines auf eigene Sinneserfahrungen vertrauenden Empiristen.

Brecht sagt mir darüber hinaus, dass b) Menschen so frei gar nicht handeln können, wenngleich sie frei geboren werden. Innerhalb einer existenzphilosophischen Betrachtung, die strukturalistisch um eine zusätzliche Tiefenschicht erweitert wird, zeigt „Leben des Galilei“ die Diskrepanz von Freiheit und Einschränkung auf. Auch wenn Sartre davon schrieb, dass der Mensch dazu verurteilt sei, frei zu sein, indem er seiner Existenz eigenständig einen Sinn verleihe, haben die Strukturalisten dagegen herausgestellt, dass das Individuum dennoch in Strukturen verhaftet sei, die dessen freien Willen zu handeln einschränken. Strukturen wie Sprache und Moral, aber auch bürgerliche Normen und gesellschaftliche Paradigmen bedeuten laut dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan, insbesondere im Kontext der sprachlichen Struktur, „symbolische Ordnungen“, die es, um es mit den Worten Friedrich Nietzsches und Ludwig Wittgensteins auszudrücken, letztendlich verhindern, dass das innerste Wesen eines „Dings“ über seine im Grunde arbiträre Bezeichnung hinaus jemals erfahren werden kann.

Offen bleibt, welcher „Strukturen“ sich nun jene Gelehrten bemächtigen, die, indem sie sich auf Aristoteles‘ Lehre berufen, Galilei versuchen zu überzeugen, von seiner eigenen Lehre eines heliozentrischen Weltbilds Abstand zu nehmen. Ganz dem, was „immer“ schon war, was überliefert wurde, von den antiken Philosophen, den alten Kirchenvätern, bleiben die Gelehrten ganz ihrer selbstverständlichen Struktur als einer „höheren Pflicht“ unterstehende Abgesandte einer totalitären, einer rückständigen Obrigkeit erhalten – und damit einer selbstbeschränkenden „symbolischen Ordnung“ des eine beschützende Funktion innehabenden Glaubens vor dem Zweifel vernunftgemäßer Aufklärung. Sartres existenzialistischer Freiheitssatz wird bei Galileis Widersachern, demgemäß, ironisch umgedreht: Obgleich alle Vertreter jener aristotelischen Ideenlehre frei geboren wurden, wie jeder Mensch im Übrigen auch, wählten sie schlussendlich die Unfreiheit in ihrem Glauben an die Institution Bibel.

Brecht sagt mir vor allen anderen Dingen, dass c) die zugrunde liegenden Themen eines Machtspiels zwischen Stagnation und Fortentwicklung universell gelesen werden dürfen. Immerhin bestimmen, als eine Form der heutigen Verhältnisse entsprechenden Weiterführung, emotionale wie auch rationale Herangehensweisen, um ein „Problem“ unterschiedlichster Ausprägung zu lösen, unsere nunmehr säkularisierte Lebenswirklichkeit, und nicht erst seit dem Wirken Galileo Galileis. Die Kraft dieses Werkes kann heute, in einer Zeit, in der hysterische, unüberlegte Kurzschlussreaktionen das schlüssige, zutiefst kompromissbereite Argument zu überwiegen scheinen, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Bertolt Brecht erteilt der repressiven Unabänderlichkeit einer sowohl auf abergläubischen als auch auf despotischen Maximen errichteten Struktur- und Denkordnung eine Abfuhr. Zum Wohle des sich frei entfaltenden Menschen gemahnt Brecht an die Bedürfnisse desselben – und schenkte uns ein Fleckchen Urwald, der immer da sein wird, um sich eine besondere dort wachsende Pflanze genau anzusehen.  

Mittwoch, 8. Februar 2017

Essay: Gangster im Gemüseladen


Über die Banalität des Bösen und Bertolt Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ 

Howard Hawks drehte einen Film, einen Klassiker des amerikanischen Gangsterkinos. „Narbengesicht“. Finster und schön. Überbordend, maßlos. In diesem Werk markiert ein „X“ den Tatort. Überall Leichen, daraus resultierend: ein großzügig verteiltes Gewebe zweier übereinandergeschlagener Linien, Signaturen entstofflichter und doch materieller Gewalt. Als ich diesen Film das erste Mal sah, musste ich an Hannah Arendts Aufarbeitung von der „Banalität des Bösen“ denken. Banal, das „X“. Böse, die auf den Punkt hin konzentrierte tote Zeit unmissverständlicher Vergänglichkeit in den Straßenzügen einer Stadt, deren Engel zu Stein erstarrt sind.

Ein anderer Film. Henri-Georges Clouzot drehte einen Film, einen Klassiker des französischen Überlebenskinos. „Lohn der Angst“. Packend und mythisch. Schweißverschmiert, archaisch. In diesem Werk bestreiten vier zusammengewürfelte Menschen, vier heimatlos Gestrandete, ein Abenteuer inmitten der Naturgewalten gegen die Naturgewalten. Sie transportieren Sprengstoff, um einer Ölkatastrophe Einhalt zu gebieten, und bei der kleinstmöglichen Erschütterung ist alles aus. Als ich diesen Film das erste Mal sah, musste ich an Hannah Arendts Aufarbeitung von der „Banalität des Bösen“ denken. Banal, die tiefen Schlaglöcher. Böse, die abgekapselten Bruchstücke einer Existenz, die zu Staub zerfallen ist.

Beiden filmhistorischen Werken ist ein figurenimmanentes Psychogramm des Wechsels und Wandels inhärent. Wo sich der amerikanische Haudegen an seiner rohen Destruktivität ergötzt, leidet der französische Haudegen an seiner existenzialistischen Noblesse. Aber sowohl Hawks als auch Clouzot entmythologisierten den „großen politischen Verbrecher“ (Brecht) zu einem „beschränkt[en], oft ehrlich[en], aber selten weitblickend[en]“ (aus Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“) Volksdilettanten. 

Geschichte zu dekonstruieren, ihr das Makroskopische zu rauben, sie zu verkleinern auf Reste des Zusammenhangs zwischen den Ideologien, ihr faktisch das Engelhafte zu nehmen, wie es Walter Benjamin der Geschichte attestierte, die die Verwüstung heilen möchte, aber vom Fortschritt hinweggeweht wird, ist nicht nur ein Wesensmerkmal politischer Satiren oder personalisierter Gaunerstücke, sondern zugleich Essenz des Parabelhaften als solches.  

Bertolts Brechts auf den ersten Blick scheinoffensichtliche Gangstergroteske „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ bedient sich jenen vergleichbaren Strategien, die sich der Verhüllung bemächtigen, um spitzformulierte Kritik zu üben. Kritik an nationalistischer Zugehörigkeitsmentalität, am Wegschauen, Wegducken, Wegdiskutieren, Kritik am Gedeihen des Bösen, das, mit viel gutem Willen, „aufhaltsam“ gewesen wäre. 

Aufhaltsam gerade deshalb, weil Brecht, statt, dass er die Geschichte des Bösen entmythologisiert, vielmehr das Böse der Geschichte entwurzelt. 

Dazu verlagerte Brecht den politischen Aufstieg Adolf Hitlers in die Chicagoer Gangsterszene, deren Ikonografie nicht zufällig an die popkulturellen, umspannenden Unterweltepen erinnert, die im Geiste Al Capones gesellschaftlichen Zerfall an der Bandbreite seiner gärenden Korruption bemaß. Brecht verfremdete Namen und Handlungen, obgleich sein Arturo Ui die Identität des österreichischen Radikaldemagogen beibehielt: Ui stilisiert sich als vertrauens- und vernunftgemahnender Freund des Volkes, der mit „allerstrengste[m] moralische[m] Maßstab“ den „Frieden“ zu sichern versucht. Dieser Frieden allerdings, er gründet auf der Okkupation fremder Herrschaftsgebiete, auf dem gemeinsamen Nenner „unerschütterlichen Glauben[s]“. 

Während ich „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ las, musste ich beständig an zwei von Brecht zyklisch verwendete Wörter denken, an „Karfiol“ und „Grünzeug“ oder, als Erweiterung dessen, „Grünhandel“ und damit an die „Banalität des Bösen“. 

Banale Wörter, gewiss. Sie zeugen von unverzagten, friedlicheren und grundanständigen Zeiten gegenseitig fairer Gewinnübereinkunft.

Maskenhaft ist überhaupt die Sprache der Ganoven insgesamt: hymnisch, versgebunden, changierend zwischen lapidaren und tragikomisch ernsten Absurditäten, eine Zeichenabfolge, die hinter schrulligen, theatralisch säuselnden Gestalten die Attitüde der Scharlatanerie entlarvt. 

Wie gemeingefährlich oder, um in Brechts Euphemismus zu bleiben, „anheimelnd faul“ können Gemüsehändler sein?

Nicht, das steht außer Zweifel, sonderlich gefährlich, denn Brechts Kriminelle wirken ihrer dämonischen Anziehungskraft enthüllt. Sie sind Ikonen, Überbleibsel der „großen Sache“, deren Lächerlichkeit von ihrem Mythos überdeckt wurde. Und doch schlagen sie unvermindert zu, folgen ihrem Anführer, töten, wenn es sein muss. Denn Chicago, dieser menschenfeindliche Moloch, hat gesetzliche Autoritäten hervorgebracht, die völlig austauschbar sind. „Ohne ein ‚Volk‘ oder eine Gruppe gibt es keine Macht“, wie Hannah Arendt schrieb. Indem sich Uis Unterstützer gemeinsam in den Schein wirtschaftlicher Kollektivmacht begeben, weil der Einzelne ohne Unterstützung kaum das auszulösen vermag, wie ein Einzelner mit Unterstützung, werden aus Objekten passiver Mitwisserschaft Subjekte aktiver Mittäterschaft.  

Wie konnte es aber dazu kommen? Warum war Arturo Uis Aufstieg derart erfolgreich, obwohl er lediglich aus dem „Grünhandel“ einen persönlichen Nutzen ziehen wollte?

Die „Banalität des Bösen“ konnte nur gedeihen in einem Jahrhundert tiefsitzender moralischer Unordnung, das in seiner späteren nationalsozialistischen Ausformung laut Benjamin einen „Ausdruck“ als Ersatzbefriedigung einer Masse präsentiere, der freilich nicht ihr eigener sei.   

Das Volk wird von Ui sukzessive verführt, es steht langsamen Schrittes gar hinter ihm. Die Verführung durch die Vernunft, wie sie Ui für seine Zwecke instrumentalisiert, passt in eine Philosophie eines starren wissenschaftlichen Rationalismus des 20. Jahrhunderts, die den Formalisierungsprozess der Vernunft als Herrschaftsinstrument und damit zur höchstmöglichen (Selbst-)Vernichtung bis nach Auschwitz verwirklicht, dem Kulminationspunkt ideologisch-industrieller Vernichtung, der keine Erzählung mehr gerecht wurde. Dieser Negation der Aufklärung entspricht Arturo Ui vollumfänglich – er vertraut auf ein System, auf das Adornos berühmter Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ zutrifft. 

Nicht nur Uis, auch Hitlers Aufschwung zu höheren Sprossen der politischen Leiter tangiert die moralphilosophische Erkenntnis, dass es für den Einzelnen nicht möglich sei, ethisch verantwortungsvoll zu handeln, solange der gesellschaftliche Rahmen in sich den Maßstab normativ „richtigen“ Lebens konterkariere. 

Brecht hat mittels Verfremdungstechniken Hitler demaskiert, indem er ihn mit Arturo Ui parallelisierte, mit einem derben Draufgänger, putzigen Sprücheklopfer und groben Taktiker, der banaler als banal, im Kontext des Gemüsehandels, die Folgerichtigkeit des Bösen repräsentiert, allerdings nichts weiter als einen Nutznießer eines „koordinierten Bündels von Beziehungen“ (Michel Foucault) am richtigen Ort zur richtigen Zeit darstellt. 

Selten war Brecht dabei subversiver wie zukunftsgerichteter.    

Sonntag, 5. Februar 2017

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Quelle: eRecht24.de - Rechtsberatung von Anwalt Sören Siebert