Sonntag, 18. Juni 2017

Essay: Liebesgrüße aus dem Totenreich

Ophelia (John Everett Millais, 1852)

Über Ophelias Tod aus Hamlet und was es heißt, darüber zu schreiben

Wir sind am Siedepunkt der Tragödie angekommen, werter Leser. Unterhalten wir uns. Unterhalten wir uns, wie man das Unglück orchestriert.

Die Grundlage jeder Erzählung ist das Ich. Indem der Schriftsteller das Imaginäre erschafft, zum Beispiel eine Figur, setzt er sich automatisch mit dem Ich auseinander. Er durchlebt, er durchdringt es. Sein Ich ist im gleichen Atemzug das abgespaltete, abstrahierte Ich der Figur, erst seine inneren Befindlichkeiten bilden den Antrieb für das Handeln jener, die zum Leben erweckt werden, um eine Geschichte auszufüllen. Wenn jede Geschichte aber im Ich beginnt und über das Ich handelt, sei diese nachfolgende, die ich nun erzählen werde, eine über die Widersinnigkeit des Ich in Anbetracht der größten Katastrophe.

Lassen Sie uns eine Oase des Endlichen besuchen, lassen Sie uns ein ländliches Idyll ebenso, wie ein verlorenes Paradies bestaunen. Beschaulichkeit und Sensibilität durchbluten es inmitten einer Landschaft aus schmollenden Herbstfarben, die von Grund auf Flüchtiges, den geringsten Trieb der Zerstörung, bereits in sich tragen.

Eine junge Frau, oh, eine junge Frau schreitet über den weichen Waldboden. Ophelia, Hamlets Geliebte. Ich glaube, so heißt sie: Ophelia. Ihr Name harmoniert mit naturlebendiger Schönheit, beides musiziert einen Strom an frohgemutem Überschwang und jugendlichem Eifer.

Wie konnte diese Ophelia je solches Unglück erleiden, dass Sie und ich, der Leser, der Erzähler, es erneut ertragen müssen? Durfte sie überhaupt? Wie unschuldig oder schuldig war sie gar, wenn sich ihr Grad an Selbsttäuschung daran bemaß, ob sie Hamlets wahnsinnige Liebe oder liebestollen Wahnsinn erwiderte?

Die beiden waren vertraut, intim miteinander. Bis er ging, sie blieb. Und die Planetenumlaufbahnen durcheinandergerieten, kollidierten zu betäubendem, transzendentem Sternenstaub.

Ihnen dies expositorisch zu veranschaulichen, hingebungsvoller Leser, ist notwendig, Ophelias Lebensende als Glied in einer langen Kette an Vorboten zu begreifen, die auf weitaus Größeres, Umfassenderes hindeuten, als Bruch mit der Unschuld in einem Vakuum der Schuld.

Meine Macht, Ophelias Unheil nach meinen Gunsten zu verbiegen, ist hierbei beschränkt, werter Leser, ich soll nicht springen, hüpfen, hintergehen, muss die Geschichte an der Wahrheit packen, darf sie unter keinen Umständen zerbersten, muss an der Aufrichtigkeit meiner selbst glauben. Ich muss mich ihren Gespenstern, gleißenden Verlockungen, aber auch dunklen Verhüllungen stellen.

Geschichten, denken Sie immer daran, sind verwinkelte Straßenkarten, die leicht in eine Einbahnstraße nicht mehr buchstabenfassbarer Gefühle führen können.

Aber ich muss Ihnen Ophelias letzten Lebensaugenblick so oder so berichten, beichten vielmehr, an dieser Sackgasse des Wortes, das unmöglich seiner Bedeutung gerecht wird. Denn um eine Geschichte zu verstehen, müssen wir zunächst die Frage verstehen, die uns diese Geschichte in aller abstrakten Deutlichkeit stellt:

Wie konnte ein Engel ein Arrangement mit dem Teufel eingehen?

Dort, am Wildwasser geschah es, an einem Ast brachen Zweige, brach Ophelia. Selig und versunken schlägt des Wassers Sog eine Signatur in einen Pflanzentraum aus zärtlichen Zeichen: Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Knabenkraut.

Ungebändigte Schätze. Nimmersattes Empfinden. Vorsintflutliche Raserei.

Die Tiefe hatte ihre Ophelia.

Wie konnte ein Mädchen dort sterben, enden?

Leser, es ist schmerzhaft. Aber ich erzähle Ihnen diese Geschichte nicht, um eine der seltsameren Ursachenforschungen zu betreiben.

Alle großen Kunstwerke, erst recht die größten, sind ein Stückchen erhabener, weil sie sich unabgeschlossen ihrem Publikum präsentieren und ihr Mysterium beibehalten.

Aufhängen wollte Ophelia ihr Krautgewinde. Mehr vermag ich Ihnen nicht mitzuteilen. Nichtsahnend oder doch ahnend, die schummrig hinter ihrem wallenden Kleid sich betagt vorwärtsräkelnden Schritte der Fatalität, das Wasser ein Meer aus Regentropfenwimpernschlägen, die hinabsinken.
Nur diese mussten der Geschichte ein derart finsterschönes Ende setzen.

Leser, ich weiß. Um das Unabwendbare abzuwenden, muss man es verzögern. In jeder Geschichte schlägt der Seismograph der triumphalen wie der gleichfalls düsteren Attraktionen aus, und wenn er am höchsten ausschlägt, dann lügt der Erzähler, dann muss er lügen. Er schiebt eine Zwischenpassage ein, verlagert sich auf ein anderes Gefühlsgewusel, nimmt einen Umweg, ist feige genug, seiner eigenen Schöpfung zu misstrauen.

Nun, Leser, die Umwege haben wir hinter uns, längst hinter uns. Zeit, sich auf die Spitze der Nadel zuzubewegen. Kommen Sie. Nur Mut.

Ophelia, tatsächlich, stürzt, will stürzen, Ophelia vergeht, will vergehen. Sang ein Lied, eine Strophe, eine Note. Die allerletzte.  

Geboren werden, sterben. Schreiben, einkehren. Oder: hinausflutschen, hineingezogen werden. Überall Dichotomien und Paradoxien. Die ewige determinierte Wiederkehr.

Wie das einstmals luftleichte Kleid, das auf der Wasseroberfläche treibt, als wenn es schweren Gewichts zusammengefallen ist.

Wie profan aber dürfen düstere Geschichten ihren Ausgang nehmen, sobald sich der Seismograph erneut beruhigt? Mit einer klugen Weisheit, einer amüsanten Pointe, beschwichtigendem Optimismus?

Dann diese Weisheit vielleicht: die Tragik der menschlichen Existenz liegt in ihrer Fügung, dass ein jeder Geist stets in empfindlichster Materie verwurzelt sein muss.  

Dann diese Pointe vielleicht: ertrunken, einfach ertrunken.

Und optimistisch blickt der Schriftsteller auf sein Werk: Ophelias Gesicht treibt stoisch wie ein Stück eines abgestorbenen Blattes einer nicht näher kategorisierbaren Zeit entgegen, aber sind es nicht gerade diese Gesichter, die des Schriftstellers schöpferische Landschaft verewigen oder vielmehr das Feuer auf einem weißen Blatt Papier beschleunigen, durch das seine Erfindungsgabe lodert?  

Verlassen wir mit diesen Gedanken die Oase, das Idyll, das Paradies.

Wir werden uns an Ophelia erinnern, an eine Tote von Milliarden Erdenbewohnern, die wohlumwickelt im Sein der Seifenblasen schweben.

Ophelia hingegen ist aus ihrer Seifenblase geplumpst, schlug auf den Grund auf, Opfer einer Erschütterung, die sich Zerbrechlichkeit nennt, während wir uns fragen: warum?

Durch Ophelias Tod haben wir gelernt, wie man träumerisch zergeht, aber auch erbarmungslos zerplatzt.

Alles, was ich Ihnen, werter Leser, berichten musste, habe ich berichtet, auch wenn ich davor, Sie müssen mir verzeihen, stets zurückgeschreckt habe. Aber glauben Sie nicht an die Wahrheit irgendwo draußen, glauben Sie an die Interpretation, an meine Interpretation hier drinnen, und seien Sie sicher, dass Interpretationen des Wirklichen wirklicher als die Wirklichkeit selbst sein können.

Bis bald, Leser.

Und gehen Sie in den Wald, singen Sie ein Lied.

Denn morgen bricht das Wildwasser am Ufer.

Und keiner weiß, was es bringen wird.